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Die „Müttermanege“ – Das Leben ist ein Spielplatz


„Hallo, wir sind neu hier!“ Mit diesen Worten platze Carla nebst Sohn Carlo in mein, pardon unser aller Spielplatzmütterleben. Eine sehr besondere Frau, die das Wort Zurückhaltung vermutlich noch nie verstanden hatte. Gelebt hatte sie es jedenfalls nicht. Für Berlin eigentlich nicht untypisch, dann aber doch einen Hauch zu viel von Allem.

Die Spielplatz-Eroberin

Carla betrat den Spielplatz als wäre es der Circus Maximus in Rom und sie eine gefeierte Gladiatorin. Ihre „Rüstung“ war allerdings weniger glänzend: ein rostbrauner abgetragener Samtblazer, darunter ein verwaschenes schwarzes T-Shirt. Die Hosen in einer undefinierbaren Farbmischung aus Schwarz, Braun und Grau waren auf Kniehöhe ziemlich ausgebeult und gerade geschnitten. an den Füßen trug sie Sandaletten, die mit weißer Farbe bekleckert waren. Grundfarbe: unklar. Die schwarzen Haare hingen verklebt und strähnig auf ihren Schultern

Das alles zusammen tat ihrem Selbstbewusstsein überhaupt keinen Abbruch. Ihr stolzer, durchgedrückter Rücken sprach die Sprache einer unerschrockenen Eroberin. Hätte sie ein Tuch dabei gehabt, sie hätte es mit großer Geste über ihre Schulter geworfen. Ich war hin und her gerissen zwischen interessierter Beobachterrolle und entschlossenem Wegschauen. Das war eindeutig eine neue Farbe hier in dieser „Manege“. Ich fand es zur Abwechslung mal ganz erholsam und eigentlich auch beeindruckend, wenn da nicht dieser zweifelhafte Charme eines Überrollkommandos gewesen wäre. Uns allen war klar, das war nicht das typische Muttermodell, welche Vorstellung jede Einzelne auch immer davon gehabt haben mag.

Die Vorstellung

Kaum hatte ich den Auftritt ansatzweise verarbeitet, rief Carla mit tiefer Stimme über Buddelkiste und Rutsche hinweg in Richtung „meiner“ Bank: „Hab´ ich euch gefunden! Ha!“ Ich zuckte vor Schreck zusammen, um sofort erleichtert festzustellen, dass gar nicht ich gemeint war, sondern Miriam, Mutter von Gerda, neben mir. Miriam sank in sich zusammen wie ein Luftballon, aus dem binnen weniger Augenblicke alle Luft entwichen war.

Sofort und ungefragt, teilte sie uns mit, dass Carlo jetzt auch mal lernen müsse, wie er mit anderen Kindern spielt. „Er kann ja so schlecht teilen! Vielleicht verwöhnen wir ihn aber auch zu sehr, er ist ja unser Einziger und wird es wohl auch bleiben.“ Unnötig zu erwähnen, dass sie sich nicht fragte, ob ein Platz frei war. Sie parkte ohne zu zögern zwischen Miriam und mir ein, ich konnte gerade noch mein Buch retten. Zack, da saß sie und schaute triumphierend in die Runde.

Erster Akt

Natürlich hatte sie längst mitbekommen, dass alle Antennen ausschließlich auf sie gerichtet waren. Alle Gespräche waren verstummt. Nur die Kinder spielten friedlich vor sich hin. So unbeaufsichtigt und unkommentiert waren ihre Sandbaukünste selten. Miriam gestikulierte heftig hinter Carlas Rücken und bedeutete mir stumm: „Ich kenne die Frau überhaupt nicht! Wohnt in meiner Straße.“ Ich erwiderte in lautloser „Durch-die-Luft-Sprache“: „Ver-ste-he“. Wir warfen uns konspirative Blicke zu. Mich durchzuckte ein heftiger Fluchtimpuls, und ich verspürte große Lust ihm nachzugeben. Doch Simon, mein Sohn, war völlig in sein Spiel vertieft, ich konnte ihn jetzt unmöglich da herausreißen, das würde ein enormes Gezeter geben.

„Carlo, mein Mann und ich, wir sind neu hier im Kiez.“ Ach was. „Da hinten in dem blauen Haus, Nummer fünf, mit dem Schachbrett im Vorgarten, da wohnen wir.“ Wer ich war, interessierte sie nicht die Bohne. Die übliche Vorstellung à la „Wer ist denn deiner/deine?“ entfiel. Wozu auch. War ja gar nicht das Thema. Sie hatte offensichtlich eine ganz andere Botschaft auf der Pfanne. Wie recht ich mit dieser Einschätzung haben sollte, war allerdings nicht absehbar. Mit dem nächsten Satz griff sie gleich ins oberste Regal der Eitelkeiten „Ich hätte ja so viele Männer haben können, aber nun ja, ich habe mich für Friedrich entschieden. Er war eben auch der Intelligenteste.“ Respekt vor so viel überhöhter Eigenwahrnehmung. Leicht abschätzig musterte ich den selbsternannten Männertraum neben mir. „Als Informatikstudentin kannst du sie alle haben. Bei mir standen die Männer Schlange.“


Zweiter Akt

Nun hatte sie es geschafft, sie hatte mich und meine ungeteilte Aufmerksamkeit. Ich steckte mein Buch endgültig in die Tasche. Es versprach ein sehr spezieller Nachmittag zu werden. Eine überraschende Abwechslung gegenüber dem sonst üblichen nachmittäglichen Mütterpalaver. Und: Die Sache begann mir Spaß zu machen. Es fühlte sich an wie beim „Dschungelcamp“. Du bist eigentlich angeekelt und dennoch angezogen. Abschalten ging nicht, wenn man einen bestimmten Punkt überschritten hatte.

Das Niveau der Distanzlosigkeit war in dieser Situation ähnlich faszinierend. Mit dem nächsten Satz platzte die Bombe: „Nur schade, dass Friedrich und ich auf dem normalen Weg keine Kinder kriegen konnten. An mir lag es eindeutig nicht. Aber seine Spermien waren zu wenig und außerdem einfach zu langsam. Ihr könnt euch gar nicht vorstellen, wie viele Frauenarztbesuche ich hinter mir habe. Eizellen sind aber auch echte Sensibelchen habe ich mal gelesen.“

Uffz. Das glaube ich alles nicht. Aber es kam noch dicker, der Höhepunkt des Tabubruchs in Dauerschleife war noch nicht erreicht: „Wir haben uns dann für die „In-vitro-Befruchtung“ entschieden und sind dafür in eine Privatklinik nach Leiden gefahren. Friedrich verdient eben sehr gut und das war es uns wert. Die Holländer sind auch viel entspannter bei dem Thema.“

What? Ich verschluckte mich fast an dem Stück Möhre, dass ich soeben abgebissen hatte. Miriams und meine Augen weiteten sich wie auf Knopfdruck. Das hatte sie nicht gesagt! Wie konnte sie ihren Mann so bloßstellen? Ein rasanter Gesprächsverlauf, ohne Frage, und ich kannte zu diesem Zeitpunkt noch nicht einmal ihren Vornamen. Wie konnte sie diese intimen Details ungefragt in die „Müttermanege“ werfen? Wusste sie nicht, was sie da tat? Es ging doch hier nicht um die Anschaffung eines Sportwagens. Das war alles andere als banal.

Überflüssig zu erwähnen, dass nicht nur wir auf „unserer Bank“ zu Mitwisserinnen wurden, nein, auch die anderen Mamas spitzten die Ohren. „Ist doch toll, dass es den medizinischen Fortschritt gibt, oder? Man muss ja Gott sei Dank nicht mehr den Kopf in den Sand stecken, wenn es nicht klappt.“ Ich schaute wie gebannt auf den spielenden Carlo.

Unvermittelt stand mein Mann vor mir und wollte mich mit einem Kuss begrüßen. Ich hatte ihn nicht kommen sehen, schoss sofort hoch und zog ihn in die hinterste Ecke des Spielplatzes. „Schatz, du bist ja ganz rot im Gesicht. Ist was passiert?“ Nach meiner hastigen Zusammenfassung gab er trocken zu Protokoll: „Also hat er keine `Tinte auf dem Füller´.“ Männer! Unglaublich.

Dritter Akt

Kaum hatte es das gesagt, öffneten sich die Spielplatztüren und ein mir bisher unbekannter Mann Ende vierzig betrat die Showbühne: Das konnte nur Friedrich sein. Kein Zweifel. Der mit den verschnarchten Spermien. Jede Unterhaltung erstarb in einer scheinbar verabredeten Millisekunde. Völlig verunsichert stand er da und suchte das Terrain ab. Kurz bevor die Lage unerträglich wurde, fuchtelte Carla mit den Armen in der Luft herum und rief ihm zu: „Hier, hier sind wir Bärchen!“

Ich schaute verlegen auf meine Füße und malte mit meinen Fußspitzen Kreise in den Sand. Er tat mir leid. Noch bevor Carlos Papa an der Bank angekommen war, erhob sich mein Mann und verabschiedete sich laut mit den Worten: „Ich muss noch mal los in den Schreibwarenladen, Patronen kaufen. Wir sehen uns zu Hause.“ und verschwand mit einem breiten Grinsen. Stille. Nur die nachschwingenden Türen fielen laut knallend ins Schloss.

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