Bild: Arno Luik copyright Andreas Herzau
Arno Luik „Rauhnächte“
Rezension von Nella Rausch
Mit seinem neuesten Werk, das im März 2023 im Westend Verlag erschienen ist, begibt sich Arno Luik auf ein Terrain, dass ihm bisher völlig fremd war, er schreibt Tagebuch. Wir, die Leserinnen und Leser, erleben von Tag eins seiner Krebsdiagnose im Spätherbst 2022 bis Januar 2023 über 187 Seiten, was ihn dabei umtreibt.
Bevor wir mit ihm in seine Aufzeichnungen einsteigen, präsentiert er seine Kolumne „Merkwürdige Zeiten“, die im Hamburger Abendblatt erscheint. Diese hier lautet so: „Aufgewacht in einer anderen Zeit, denn … plötzlich geschah etwas, mit dem ich nicht gerechnet hatte – und doch immer Angst davor hatte. Wahrscheinlich auch Sie.“ Und sinniert: „Ich merke, dass das, was mir gestern noch so wichtig war, plötzlich sehr unwichtig ist.“
Krieg und Kampf
In der Welt überall Kriege, stellt er fest. „Terror des Zufalls: Diagnose Krebs“. In diesen fünf Wörtern krachen Außenwelt und Innenwelt unbarmherzig aufeinander.
Wie gut, dass er später einem Arzt begegnet, der ihm den weisen Rat gibt: „Gegen Krebs kann man nicht kämpfen. Sie müssen einfach versuchen, Ihre Lebenslust zu bewahren, den Humor nicht zu verlieren. Und essen Sie, was sie wollen.“ Dass das nicht immer so einfach ist, weil sich die Geschmacksnerven verändern, weiß er da noch nicht.
„Gestern war ich noch mitten im Leben.“
Und dann sind wir mittendrin.
Diagnose Darmkrebs: 19. September 2022.
„Gestern war ich noch mitten im Leben, heute bin ich draußen und mit dem konfrontiert, was wir alle wissen, die meisten irgendwie verdrängen. Doch für mich nicht mehr möglich ist, dieses Wissen auszublenden: dass wir alle sterben müssen.
Das Mistviech in meinem Körper hämmert mir dieses Wissen ja ohne Unterlass in den Kopf: Ich hab‘ Dich im Griff! Und ich würde es gerne anbrüllen: Komm raus, Du blödes Viech! Aber das böse Tier denkt nicht daran. Ob Bestrahlung, Chemo es zermürben, erwürgen?“
Lustig, auch ich nannte „meinen“ Krebs Sausack. Mistviech und Sausack sind nicht so weit auseinander, denke ich. Dennoch gehen wir beide, wenn ich das so sagen darf, die Verarbeitung der Diagnose völlig anders an. Wir haben eben alle unseren eigenen Weg.
Nah dran
Es ist nur selten so, dass wir gefühlt unmittelbar dabei sind. Zusehen, lauschen, lesen, was geschieht, was der Krebs mit einem macht.
Wir reisen in den kommenden Monaten mit Arno Luik von seiner Wahlheimat Hamburg in seine Kindheit und an seinen Geburtsort Königsbronn. Er wechselt dabei immer wieder zwischen Erinnerungen, Beobachtungen der politisch-gesellschaftlichen Situation und dem neuen Alltag mit Chemo und Bestrahlung. Arno Luik nimmt uns mit in seine journalistische Arbeit mit Essays, Interviews, Artikeln und dem Abschiedsbrief an die Kolleginnen und Kollegen vom „Stern“, den er uns lesen lässt.
Der Krebs verändert nicht alles
Als ich die Anfrage, eine Rezension über Arno Luiks neuestes Werk “Rauhnächte” zu schreiben, erhielt, war ich sehr gespannt darauf, wie sich der Mann, der gerne als “Edelfeder” des „Stern“ bezeichnet wurde und große Spuren in namhaften Blättern wie zum Beispiel der „taz“ und dem „Hamburger Abendblatt“ hinterlassen hat, mit der eigenen Darmkrebsdiagnose auseinandersetzt. Es musste, es sollte, so meine Erwartung, „etwas Besonderes“ sein.
Und dann war es doch überraschend anders. Und dann aber auch wieder nicht. Denn natürlich verändert niemand sein Wesen, seine Interessen, seinen bisherigen Fokus komplett und verliert das alles sofort aus dem Blick. Das schafft auch eine Krebsdiagnose nicht. Gott sei Dank, mag man da sagen.
„In der Rüstung sind sie fix, für das Gesundheitswesen tun sie nix.“
Da Luik ein Medienmensch durch und durch ist, beobachtet und kommentiert er die Regierenden und deren Handeln, deren Verhalten und die sich verändernden Motivationslagen durch seine journalistische Brille. Der Krieg in der Ukraine spielt eine große Rolle bei seinen Beobachtungen. Die Vermischung der beiden Welten haben bisweilen kabarettistische Züge, wie zum Beispiel, als er auf die Port-OP wartet, die immer wieder verschoben wird und feststellt: „In der Rüstung sind sie fix, für das Gesundheitswesen tun sie nix.“
Das anfänglich mehrere Ärzte verschiedene Therapie-Ansätze bevorzugen, die einen sagen erst Bestrahlung dann Chemo, die anderen umgekehrt, macht ihn natürlich nervös. Da finde ich mich wieder und verstehe seine Suche nach dem richtigen medizinischen Weg sehr gut. Wie schwierig es ist, zu vertrauen, wenn du als Patient mitbekommst, dass Ärzte nicht immer ganz genau wissen, was hilft.
„Ich bin wertvoll.“
Näher komme ich ihm, dem Mensch Luik, das erste Mal durch die sehr persönliche Familiengeschichte, in der er über seine früh verstorbene Schwester schreibt, die an ALS erkrankt war. Wir lesen die Grabrede, die er für sie gehalten hat und halten mit ihm den zerknitterten Schnipsel in der Hand, den er in ihrem Bett fand, auf dem sie notierte: „Ich bin wertvoll.“ Ich fühle mit ihm und denke, es ist schlimm, wenn so nahe, liebe Menschen von uns gehen müssen.
Auch die Beschreibungen der Sprachlosigkeit und Überforderung seiner Freunde und wie wenig doch von dem anfänglichen Engagement übriggeblieben ist, lässt mich zustimmend mit dem Kopf nicken. Dass das aber bereits nach nicht einmal vier Monaten der Fall ist, erschüttert mich.
Da schrieben ihm Weggefährten Sätze wie: “Das ist mir zu intim.” oder “Ich denke, dass auch alle guten Worte einem nicht wirklich weiterhelfen (deshalb lass ich es).” Und der folgerichtige Schluss Luiks aus den Antworten, die wie vorzeitige Abschiede klingen: „Meine Krankheit macht mich einsamer.“, macht mich traurig.
Gespräche, Interviews und Zeitzeugen
Die beruflichen Seitenblicke auf sein Schaffen, auf die Interviews, die er geführt hat, haben mich mit dem Journalisten Luik zusammengebracht. Dem Luik, der sehr spezielle, tiefe Gespräche mit Leonhard Elser, dem Bruder des Hitler-Attentäters Georg Elser und ein entfernter Verwandter seiner Mutter aus seiner Heimatsstadt Königsbronn, geführt hat und damit auch das Andenken an diesen mutigen, wenig beachteten Mann einfordert. Das Essay für die „taz“ dazu ist vollständig abgedruckt und spannend zu lesen.
Auch hier wieder ein Zufall.
Denn als sich das Attentat Elsers zum 83. Mal jährt ist, der Bundespräsident Steinmeier nach Königsbronn gekommen. Der Platz vor dem Bahnhof ist abgesperrt. Luik, der zufällig mit seinem Fahrrad vor Ort ist, schafft es die Absperrung zu überwinden und der skurrilen Szene beizuwohnen, die er dann in etwa so beschreibt: Steinmeiner tritt hervor und grüßt vor den laufenden Kameras der Journaille huldvoll nach rechts und links in die nicht vorhandene Menge. Die „Menge“ besteht aus Luik, seinem Fahrrad und ein paar Sicherheitskräften, mehr nicht. Ich muss schmunzeln.
Boris Becker und Angelika Schrobsdorff
Dann begegne ich dem Luik, der mit Boris Becker, meinem Idol in dieser Zeit, im Jahre 1990 über seine Rolle als Tennisstar spricht und mit seinen Fragen und dessen Antworten wahre Wellen im Blätterwald der Kommentatoren produziert, weil Becker offenbarte, Schwierigkeiten mit seiner Rolle als Tennisstar zu haben, nie zur Bundeswehr gegangen wäre, weil er Pazifist ist und gehofft hatte, irgendwann einmal ein normales Leben zu führen.
Wie falsch er damit liegen würde, beweist die jüngste Geschichte und seine Entlassung aus dem Londoner Gefängnis Ende des Jahres 2022, die sich ebenfalls zeitlich mit Luiks Tagebuchaufzeichnungen überschneidet.
Und nicht zuletzt lerne ich den ausgezeichneten Fragensteller Arno Luik kennen, der ein außergewöhnliches Interview mit der Schriftstellerin Angelika Schrobsdorff über den Tod oder besser die Sehnsucht nach dem Tod führte, das sicher nicht ohne Grund fast ganz am Ende seines Buches in den letzten Tagen seiner „Rauhnächte“ auftaucht.
Ablenkungsmanöver
Ich könnte ihm stundenlang zuhören, wäre da nicht das eigentliche Thema, um das es gehen sollte, oder nicht? Denn ich ertappe mich dabei, dass ich immer wieder ungeduldig auf ein paar Einblicke auf seine Gedanken dazu warte.
Warum schreibt Luik so viel über ganz andere Themen? Er sagt selbst, dass er sich auch fragt, ob diese Geschichten nicht Ablenkungsmanöver sind, ein Wortwall, den er hochzieht. Und ich denke, genau das ist es und genau das ist das, was den Reiz dieses Buches ausmacht.
Die Leserin, der Leser beobachtet Arno Luik bei der gedanklichen Flucht vor der Auseinandersetzung mit seiner Diagnose. Vermutlich, weil sie ihm so bedrohlich, so groß erscheint, dass er sie klein redet und sich mit Beschreibungen von “Nebenkriegsschauplätzen” aufhält.
Dieses thematische Hin und Her zwischen Innen und Außen versuche ich mitzugehen.
Arno Luik gewährt den Lesenden nur immer wieder ganz kleine, kurze intensive Einblicke in seinen Seelenzustand. Er traut sich nicht länger auszuhalten, was ihn beschäftigt, scheint mir. Denn schließlich ist es sein Tagebuch, für sich geschrieben, oder nicht?
„Ungewissheit vor der Zukunft, die Leichtigkeit dahin, die Unbeschwertheit weg.”, ist so ein Satz, der bei mir nachschwingt.
Selbst dann, wenn er erwähnt, dass er wieder schlecht geschlafen und Albträume hatte, die wiederum geprägt sind vom politischen Zeitgeschehen, zoomt er nicht rein.
“Es soll wieder so werden wie früher.“
Luik spielt das eigentliche Thema über Bande. Er möchte so viel möglich aus seiner alten Welt, aus der des Medien- und Politikbeobachters, retten. Eine recht typische Verhaltensweise, die auch mir sehr vertraut ist. Am Anfang, kurz nach der Krebsdiagnose, ist es, als seiest du eine Flipperkugel, die durch Gedanken, Begegnungen und medizinische Hiobsbotschaften über die neue “Lebensflipperfläche” gespielt wird. Daher ist alles, was die Kugel zur Ruhe bringt, herzlich willkommen. Meist ist es das Gewohnte, das Eingespielte.
Der Wunsch, den er am Ende des Buches öfter formuliert, wie ein Gebet oder ein Mantra “Es soll wieder so werden wie früher.”, ist ebenfalls Ausdruck des oben Beschriebenen. Der Spuk soll schnell ein Ende haben.
Meine Erfahrung: Es wird besser mit der Zeit, weil die Gedanken andere werden. Gedanken, die mehr in die Tiefe gehen und einen neuen Zugang zu sich selbst gewähren. Aber das dauert.
„Da ist Angst in mir.“
Für Menschen, die besonders an Geschichte, an Politik interessiert sind, ist dieses Bandenspiel eine schöne Ablenkung und eventuell auch die Inspiration dafür, sich nicht völlig in der Diagnose zu verlieren.
Ich mag auch, dass er sich damit schwertut, die Offenheit einzulösen, die er sich selbst auferlegt hatte, als er mit dem Schreiben des Tagebuches begann.
„Ich habe vor einigen Tagen notiert, dass ich in diesen Tagen zutiefst ehrlich alles aufschreiben möchte. … Ich glaube nicht, dass ich das schaffe. Da ist Angst in mir.“
Es ist eben verdammt schwer, sich nahe zu kommen, wenn es schmerzt, sich einem die Endlichkeit des Seins aufdrängt und der Körper nicht mehr so verlässlich wie gewohnt ist.
Merkwürdige Zeiten – in der Tat
Die Aufzeichnungen enden, wie sie begonnen haben mit einer neuen Kolumne „Merkwürdige Zeiten“ im Hamburger Abendblatt. Titel: „Ein Nachtmahr zum Neuen Jahr, von … dem ich sehr hoffe, dass er nur ein vorübergehender Albtraum ist.“
Was mich beim Lesen beschäftigt hat, ist der Begriff der „Schonungslosigkeit“, von der auch Harald Welzer auf dem Buchrücken des Einbands spricht. Ehrlich gesagt, habe ich drauf die ganze Zeit gewartet. Vielleicht liegt es daran, dass mir die Situation so vertraut ist, auch seine Gedanken, selbst wenn ich die nicht 1:1 in der Form hatte. Ich fand es eher entspannend, wie klar er die Dinge, wenn er es denn mal tut, beim Namen nennt.
Ich habe gespürt, dass ihm häufig die verständliche Angst im Wege ist, dass er deswegen wenig darüber schreibt, wie es wahrhaftig in ihm aussieht.
Das schafft für mich vor allem die berührende Szene mit seiner Frau Barbara, die weinend über ihm zusammenbricht, als sie nach Hause kommt, weil sie gesungen und alles um sich herum für einen kurzen Moment vergessen und sich frei von all dem gefühlt hat.
Ich hätte noch mehr davon vertragen.
Ich danke Arno Luik für den aufwühlenden Gang durch seine „Innernächte“ und hoffe, dass er seinen ruhigen Schlaf und die Leichtigkeit wiederfindet.
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